Noch vor wenigen Jahren befanden sich Unternehmen in einer komfortablen Lage. Auf dem Arbeitsmarkt hatten sie die freie Auswahl – zahlreiche Kandidaten bewarben sich auf eine begrenzte Anzahl offener Stellen. Inzwischen hat sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt. Viele Unternehmen suchen händeringend nach passenden Bewerbern. Offene Stellen bleiben immer länger unbesetzt. Mit Reverse Recruiting können Arbeitgeber auf besonders effiziente Weise neue Mitarbeiter finden. Was liegt hinter dem Trend?
Das Prinzip von Reverse Recruiting ist einfach – und bereits aus heutiger Perspektive die Zukunft des Recruitings. Dabei verkehrt sich der klassische Bewerbungsprozess in sein Gegenteil. Als Bewerber agieren nicht potentielle Kandidaten für eine freie Stelle, sondern Unternehmen, die nach Mitarbeitern suchen. Den Bedürfnissen der Generationen X und vor allem Z kommt dieser Ansatz sehr entgegen. Für viele Firmen ist damit allerdings ein kompletter Kulturwechsel verbunden. Sie müssen lernen, sich potenziellen neuen Mitarbeitern in individueller Form als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.
Dass sich der Arbeitsmarkt nachhaltig verändert hat, ist bereits seit Jahren spürbar. Für immer mehr Unternehmen wird eine gute Position im „War of Talents“ erfolgs- und wettbewerbsentscheidend. Aus einer Studie des ifo-Instituts geht hervor, dass im Juli 2022 knapp 50 Prozent direkt unter dem Fachkräftemangel litten. Sie sind gezwungen, ihre Geschäfte einzuschränken, weil sie nicht über genügend Personal verfügen. Betroffen sind davon so gut wie alle Branchen.
Gleichzeitig steigt die Vakanz-Zeit für offene Stellen an. Im gleitenden Jahresdurchschnitt Dezember 2021 bis November 2022 lag sie laut statista branchenübergreifend bei 153 Tagen. Die Statistik zeigt, dass davon nahezu alle Anforderungsniveaus betroffen sind. Probleme im Recruiting gibt es nicht nur bei Experten, sondern auch in vielen anderen Bereichen.
Zudem wirken unbesetzte Stellen nicht nur als Produktivitätsblockade, sondern sind ein unmittelbarer Kostenfaktor. Eine offene Stelle kann Unternehmen laut stepstone bis zu 38.000 Euro kosten. Kurze Besetzungszeiten bedeuten für Unternehmen somit bares Geld.
Aktives Employer Branding und Active Sourcing sind heute in den meisten Unternehmen Standard. Reverse Recruiting leitet in der Personalbeschaffung jedoch eine neue Phase ein – mit Active Sourcing ist es aus mehreren Gründen nicht identisch.
Bei Active Sourcing geht es darum, durch die aktive Ansprache von Bewerbern mehr potenzielle Kandidaten zu erreichen. Als Kommunikationskanäle stehen dafür beispielsweise Karriere-Messen und andere Job-Events, aber auch digitale Medien zur Verfügung. Der erste Schritt der Bewerberansprache geht somit auch bei Active Sourcing vom Arbeitgeber aus. Allerdings wird der klassische Bewerbungsprozess hierdurch nicht verändert. Auf den Erstkontakt erfolgt ein klassisches Bewerbungsverfahren mit Vorauswahl durch den Arbeitgeber, einem Vorstellungsgespräch und einer finalen Entscheidung über die Einstellung, die in der Regel ausschließlich vom Unternehmen ausgeht.
Reverse Recruiting kehrt diese Relation grundsätzlich um. Kandidaten publizieren auf einer digitalen Plattform ihr berufliches Profil und lassen sich von Unternehmen finden. Die Arbeitgeber treffen eine Vorauswahl, welche für sie tatsächlich relevanten Profile sie kontaktieren wollen. Wenn es für beide Seiten passt, steht einer schnellen Einigung und der Besetzung der offenen Stelle nichts im Wege.
Reverse Recruiting ist ein direktes Produkt der Digitalisierung, die sich auch in HR-Prozessen immer stärker auswirkt. Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme zu potenziellen Kandidaten bieten darauf spezialisierte Plattformen im Internet, aber auch Social-Media-Kanäle wie LinkedIn und Xing. Unabhängig von der gewählten Kommunikationsplattform ist der Verlauf der Kommunikation identisch: Arbeitgeber bewerben sich mit einem Anschreiben und idealerweise mit einer digitalen „Bewerbungsmappe“ bei Personen, die sie sich als Mitarbeiter wünschen. In den verschickten Unterlagen kommunizieren sie alle Punkte, die für eine fundierte Entscheidung des Kandidaten relevant sind. Ein klassisches Bewerbungsverfahren spielt für beide Seiten keine Rolle. Die Entscheidung über eine Zusammenarbeit wird von beiden Seiten proaktiv und – nach einem persönlichen oder virtuellen Kennenlernen – proaktiv getroffen.
Digitalprozesse können die Auswahl der passenden Kandidaten für eine Arbeitgeber-Bewerbung wirksam unterstützen. Die Profile der Talente sind in Datenbanken abgelegt. Sie enthalten Informationen zum beruflichen Werdegang, zu Qualifikationen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Kompetenzen sowie zu präferierten Stellen und zum Teil auch zu den gewünschten Arbeitgebern. Darauf abgestimmte Software ermöglicht, die Suche nach Adressaten für eine Bewerbung weitgehend zu automatisieren, da durch die Programme nur relevante Profile ausgegeben werden. Die kontaktierten Arbeitnehmer entscheiden nach der Kontaktaufnahme mit einem Klick, ob die Bewerbung für sie relevant ist.
Mit Reverse Recruiting sind für Unternehmen mehrere Vorteile verbunden:
Bei der Umsetzung Ihres Reverse Recruitings müssen Unternehmen nicht nur eine inhaltliche Strategie entwickeln, sondern auch deren praktische Umsetzung im Blick behalten. In unserem HR-Guide beschreiben wir Ihnen ausführlich, wie diese Umsetzung gelingen kann.