Wenn wir eine Herausforderung haben, dann ist es das in der Politik offen kommunizierte Thema des Personalmangels bzw. der personellen Dichte. Damit einher gehen eine gewisse Bezahlung und eine gewisse Finanzierung dieses Personals. Eine der organisatorischen Fragestellungen, die wir uns in der Zukunft in dieser Branche stellen müssen, lautet: Ist das so in der Form noch finanzierbar bzw. ist das so noch personell abdeckbar oder brauchen wir in Zukunft vielleicht eine Aufgabenteilung, die anders bzw. automatisierter ist? Um die menschlichen Kapazitäten für einige Aufgaben sinnhaft und zielgerichtet einzusetzen.
Stand heute merken wir das insofern, als dass wir immer wieder Diskussionen in der Öffentlichkeit hören, dass Stationen in Krankenhäusern geschlossen werden oder dass es dort, vor allem in der Corona-Pandemie, zu Mehrarbeit und Überstunden gekommen ist. Daraus resultiert für die Zukunft sicherlich auch, dass man sich fragen muss: Was sind Aufgaben, die wir anders verteilen können oder automatisieren müssen? Was sind Qualitätsmerkmale und ethische Standards, an denen wir festhalten möchten, um die Versorgung weiter im Sinne des Menschen zu gestalten? Wir müssen uns aber auch fragen: Was ist belastendes Beiwerk und eigentlich – unter anderem elektronisch – lösbar?
Ich glaube die Corona-Pandemie hat für die Pflege insofern etwas verändert, als dass es eine besondere Belastungssituation gab. Diese hat es sicherlich auch in anderen Bereichen gegeben, aber ich glaube schon, dass diese Situation im Sozial- und Gesundheitswesen sehr katalysiert aufgetreten ist. Diese Situation hatten wir vorher in dem Ausmaß sicherlich nicht, und da ist es nicht verwunderlich, dass der ein oder andere sich anders orientiert. Nur eine faire und korrekte Bezahlung für die Pflege und das Schaffen von Ausgleichsmöglichkeiten für das Personal können helfen.
Digitalisierung kann an den Stellen besonders effizient ansetzen, an denen viel Zeit „verschwendet“ wird, zum Beispiel, wenn heute noch Abrechnungsunterlagen oder Versorgungsberichte in Papierform ausgetauscht werden. Daher bedeutet Digitalisierung auch, dass sich Software öffnen muss, um Daten mit Dritten zu teilen. Ich glaube, da gibt es noch ganz viel Potential in Deutschland – und zwar nicht eben dieses all erschlagende Potential, dass man sagt: Es muss alles sofort und auf einmal passieren! Sondern dass wir uns auf einen Weg machen und Dinge anfangen, zu teilen. Also zum Beispiel eine elektronische Rechnung, die ein Angehöriger statt einer Papier-Rechnung erhält. Anderes Beispiel: das Verordnungswesen. Es ist notwendig, dass man Prozesse zwischen den Kostenträgern und den Einrichtungen komplett digitalisiert. Das ist noch nicht flächendeckend geschehen. Es gibt erste Ansätze, die coronabedingt sicher auch schon weiter vorangetrieben wurden, aber genau an diesen Stellen müssen wir weiterarbeiten. Und mit der Digitalisierung geht auch einher, dass sich Arbeitsmittel und Arbeitsplätze verändern.
Heute kann anders dokumentiert werden, zum Beispiel mobil. Außerdem dürfen wir uns auf den Weg machen, Hilfsarbeiten durchaus von automatisierten Prozessen erledigen zu lassen. Wenn wir heute über Robotik in der Pflege sprechen, dann denken immer alle an einen tanzenden Roboter. Das ist auch süß, Fakt ist aber, dass ein solcher Roboter außer Mobilisation und einer gewisser sozialen Komponente wenig kann. Wir müssen Robotik weiterdenken, so dass eine gut ausgebildete Pflege- oder Hauswirtschaftskraft nicht dafür eingesetzt wird, Müll einzusammeln oder die Wäsche abzuholen. Da gibt es im Krankenhaussektor glücklicherweise schon automatisierte Verfahren, wie etwa Bettentunnel, die dann zum Beispiel die Pflegebetten vom einen Ort zum anderen fahren. Wir sollten gewisse Prozesse, die nicht zwingend menschlichem Kontakt bedürfen, automatisieren.
KI ist immer so ein großer Begriff. Natürlich ist es wichtig, dass man anhand von konkreten Anwendungsfällen assistierende Situationen schafft. Bei uns im Hause stellen wir mit der Vivendi Assist Plattform einen einfachen Zugang zur digitalen, vernetzten und kooperativen Welt der Sozialbranche zur Verfügung. Sie verbindet Einrichtungen, Institutionen, Dienstleister sowie das Internet der Dinge (unter anderem AAL Systeme) mit Vivendi, indem die Plattform digitale Services gebündelt zur Verfügung stellt. So stellen wir die Unterstützung im Entscheidungsprozess zur Verfügung. Das beginnt bei sehr vertrauten Dingen wie einer Sprachdokumentation, also dass ich den Pflegebericht oder Vitalwerte in ein Handy einsprechen kann. Das geht aber auch für unterstützende medizinische Systeme, die Informationen zurückgeben.
So könnte es zum Beispiel heißen: Diese Medikation ist für jemanden männliches im Alter von über 60 Jahren nicht geeignet, weil es häufiger zu Komplikationen kommt. Hier geht es also um klassische Verträglichkeitsprüfungen. Das sind Felder, in denen assistierende Systeme extrem viel Sinn machen und unterstützen. Dennoch bin ich froh, dass wir den großen ethischen Faktor Mensch bei uns in der Pflege in Deutschland haben, der am Ende die Entscheidung der Maschine kontrolliert. Bei der Vielfältigkeit von Informationen, die wir heute haben, ist es aber umso wichtiger, dass diese Informationen aufbereitet werden und das ist genau das Ziel von Entscheidungssystemen.
Zunächst denke ich, dass wir die Branche manchmal schlechter reden, als sie ist. Zum Beispiel das ganze Thema mobile Dokumentation oder mobiles Arbeiten ist in der Branche schon allein aus der ambulanten Pflege heraus über viele Jahre effizient gedacht, weil man zum Beispiel seine Pflegeakte mit auf einem Mobilgerät mitnimmt und eben da schon hochdigitalisiert ist. Ich glaube, dass wir an dieser Stelle schon eine Menge digitale Anwendungsfälle haben und dass man in Hinblick auf das Öffnen von Schnittstellen und das transparente Verteilen von Daten außerhalb des eigenen Kosmos noch zahlreiche Möglichkeiten hat, was zum Beispiel die elektronische Patientenakten angeht.
Das sind in Deutschland immer verkopfte Themen, die sehr technokratisch betrachtet werden. Die Finnen, die Dänen oder die Österreicher sind da einfacher gestrickt, weil sie aus einem anderen Blickwinkel schauen. Die kommen von einem personenzentrierten Ansatz, den wir pflegerisch ja auch in Deutschland kennen. Sie sagen, dass jeder Mensch eine digitale Identität besitzt und mit der steigt er in den Pflegeprozess ein. Dann gehen sie noch ein Stück weiter und sagen, diese digitale Identität ist staatlich ausgestellt. Und mit dieser Identität können sie zum Beispiel eine elektronische Patientenakte anlegen oder ihre Krankenversicherung anmelden. Und mit diesem Ansatz können wir uns noch besser aufstellen, was die Vernetzung angeht in den einzelnen Einrichtungen. Genauso agiert die Vivendi Assist Plattform, von der Identität der Person aus.
Es gibt viele Anwendungsfälle. Und es gibt ebenso tolle Leuchttürme. Wir arbeiten zum Beispiel intensiv mit einer Augmented Reality Brille, die Pflegedaten in die Brille spiegelt, um die Pflegekraft vor Ort am Bett zu unterstützen. Man kann sich so zum Beispiel auch den Maßnahmenplan für den Patienten anzeigen lassen oder das Medikamentenbild abgleichen. Oder man kann einen Wundexperten per Video-Call dazuschalten. Dafür wurde man vor 5 Jahren noch belächelt. Bei den Schnittstellen, also bei dem Vernetzen mit den verschiedenen Playern, haben wir gute Grundsteine in der Branche, aber wir können da noch weiter gehen.
Ich glaube, dass das Sozialwesen in 10 Jahren etwas bunter sein wird als heute. Ich gehe davon aus, dass wir einen Trend hin weiter zur ambulanten Versorgung sehen werden. Menschen werden sicherlich älter und haben hoffentlich die Möglichkeit, relativ lange zu Hause unterstützt zu werden. Wir werden uns weiter digitalisieren und werden über Plattformen vernetzt sein und Informationen teilen. Ich nenne ganz gerne das Beispiel der Sprachassistenz. Es wird ganz viele Systeme geben, die uns in Zukunft entlasten können. Außerdem werden Systeme stetig intelligenter.
Wir arbeiten zum Beispiel über unsere Plattform mit Anbietern zusammen, die Sensorik im Haus anbieten. Beispiel: Wenn ein Tag lang der Kühlschrank nicht geöffnet wurde, dann kommt eine Meldung, die mitteilt, dass die Person einen Tag lang nichts gegessen hat. Das sind Anwendungsfälle, die Präsenzzeiten im ambulanten Pflegedienst reduzieren, denn dieser wird erst informiert, wenn man in eine unzureichende Situation gelangt.
Total. Das ist immer getragen von zwei Dingen. Einerseits müssen wir das als Branche machen, weil die Branche sonst eben auch gar nicht mehr die Chance hat, diesen ganzen Leistungsapparat aufrecht zu erhalten und das ist schon Antrieb genug. Auf der anderen Seite haben wir aber auch immer die Erfahrung gemacht, dass die Branche eigentlich ganz offen dafür ist. Dinge, die entlasten, werden angenommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Branche das möchte und wünscht. Ich glaube manchmal eher, dass wir von außen noch mehr dafür offen sein müssen.